Was ist ein „Beweis“?
5. Apr 2012 von Wolf
… und wann braucht man ihn?
Aus wissenschaftlicher Sicht gesehen könnte man sagen, dass jedwede Behauptung, die sich nicht auf einen offenkundigen Sachverhalt bezieht, bewiesen werden muss. „Menschen können ohne Sauerstoff nicht leben“ ist eine Behauptung, die keines wissenschaftlichen Beweises bedarf, oder? „Guru Zapp kann levitieren“ – na, das soll er, bitte schön, beweisen, und zwar zu wissenschaftlichen Bedingungen (wir wissen ja, dass Illusionisten solche „Tricks“ ebenfalls beherrschen).
Aus nicht-wissenschaftlicher, alltäglicher Sicht von Laien, sieht die Beweislage allerdings ganz – aber wirklich GANZ anders aus!
Die Wissenschaftler drücken sich sehr vage aus, wenn sie sagen sollen, wann genau die Wissenschaftlichkeit ihren Anfang genommen hat, und zwar deswegen, weil sie einerseits den Wissenschaften einen möglichst langen, geschichtlichen Werdegang geben – (sonst wären die Wissenschaften was? Eine Mode des 20.Jahrhunderts?), aber andereseits für den gleichen, langen Zeitraum diversen Systemen, die ebenfalls auf Empirie beruhen, ihre Gültigkeit absprechen wollen. Provokant formuliert: der zur Ader lassende „Schulmediziner“ der Renaissance ist ein Vertreter der wissenschaftlichen Medizin, aber ein zu dieser Zeit auf 1500 Jahre Theorie und Praxis zurückblickender chinesischer Akupunkteur ist ein Charlatan … da verstehe einer die Wissenschaften!
Man weiß also nie, wann die Wissenschaftler nicht plötzlich eine geschichtliche Behandlungsmethode für sich hijacken – waren die alten Ägypter etwa wissenschaftliche Mediziner, weil sie die Heilwirkung von Schimmel entdeckt hatten? Sei es drum, bemühen Sie Ihren gesunden Menschenverstand: seit hunderten, ja, tausenden von Jahren haben Menschen herausgefunden, dass bestimmte Pflanzen als Heilmittel verwendet werden können, oder: dass Wein oder Essig die Wundheilung, und dass Honig bestimmte Entzündungen positiv beeinflusst – und das alles ohne Doppel-blind Versuche, ohne klinische Tests, ohne das ganze wissenschaftliche Brimbramborium und Instrumentarium. Wenn ich jetzt schreibe, dass Beweise aus systematischer und vergleichender Beobachtung resultieren, dann ist das genau so ein Sachverhalt, den die Wissenschaften hijacken, das heisst für sich beanspruchen. Dieser Logik folgend, wäre der erste Neandertaler, der beobachtete, dass Schnitt- oder Kratzwunden weniger eiterten und schneller verheilten wenn man sie unter fließendem Wasser wusch, der erste Wissenschaftler. Na ja, vielleicht hätte er es noch aufschreiben sollen, um es der Nachwelt zu überliefern.
Es gibt gemeinsame Wurzeln für die Methodik in der wissenschaftlichen und der alternativen Medizin: 1) Die systematische Beobachtung und Auswertung (Dokumentation) von Krankheitssymptomen und der Wirkung der angewendeten Behandlungen; 2) wo möglich, messbare Daten zu erhalten, um Vergleiche anstellen zu können. In der pflanzlichen Heilkunde war schon sehr früh bekannt, dass bei Heilpflanzen die Dosierung zwischen toxischem und heilendem Effekt unterscheidet. In der mittelalterlichen Klosterapotheke hantierte der zuständige Mönch mit Feinwaage und Meßbecher. Inzwischen, das braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden, steht der wissenschaftlichen Medizin ein ganz anderes, ungleich viel präziseres Meßinstrumentarium zur Verfügung.
Dort, wo es also um meßbare Substanzen und deren Wirkungen und eine entsprechende Dokumentation geht, kann man von wissenschaftlicher Medizin bzw. einem solchen Ansatz sprechen – nur gibt es da schon gleich wieder ein riesengroßes ABER. Hinter dieser Methode können nämlich ein bestimmtes Weltbild, eine bestimmte Philosophie oder ein bestimmter Glaube stehen, welche die Be- und Auswertung der Daten bestimmen, und die können alles andere als „wissenschaftlich“ sein.
Bereits im Mittelalter dürfte man eine ziemlich genaue Vorstellung davon gehabt haben, wieviel Blut im menschlichen Körper fließt, und ab wann bei einer bestimmten Menge verlorenen Blutes der Tod eintritt. Wenn so genannte damalige „Ärzte“ ihre Patienten zur Ader ließen, und das oft bis in den Tod, dann zählten hier nicht die reinen Meßwerte, sondern die Idee des Ungleichgewichtes der vier Säfte (galenische Medizin): Blut, gelbe und schwarze Galle, und Schleim. Das Blut sollte sich in den Gliedern stauen und verderben, darum musste „schlechtes“ Blut entfernt werden. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, kritisierte den Fach- und Leibarzt Lagusius, der, seiner Meinung nach, Kaiser Leopold II. durch einen vierfachen Aderlass innerhalb von 24 Stunden ins Jenseits „behandelt“ hatte.
Was die wenigsten Interessierten wissen: Samuel Hahnemann – nach derzeitig wissenschaftlicher Ansicht ein Quacksalber – beendete mit seiner Homöopathie den Amoklauf der Heroischen Medizin (1780 – 1850), in der „wissenschaftliche Ärzte“ verschiedene Drastika wie Aderlass, Reinigung des Magen-Darm Traktes mittels Quecksilberchlorid und Erbrechen durch Gaben von Weinstein anwendeten. Fazit: Viele Menschen starben damals nicht an ihren Krankheiten, sondern an deren Behandlungen durch „wissenschaftliche Ärzte“. Ein nachträgliches Hoch auf den „Quacksalber“ Hahnemann wäre angebracht, meinen Sie nicht auch?
Noch schwieriger (und unwissenschaftlicher) wird es, wenn Diagnostik und Behandlungsmethoden von einer Philosophie getragen werden, die ihre Parameter auf den Körper projiziert, ohne dass diese physisch erkennbar oder meßbar sind. Paradebeispiele: Homöopathie und Akupunktur. Weder Körper Meridiane noch Feinrezeptoren für nicht stoffliche Informationen haben sich bislang zu erkennen gegeben. Andererseits sind genaue Beobachtungen, schriftlich fixiert, sowie deren systematische Aus- und Bewertung in beiden Systemen vorhanden, die aber tun die Wissenschaftler als „anekdotisch“ ab (gleich mehr dazu), also zählen diese nicht als wissenschaftlicher Beweis. Mit dem wissenschaftlichen Beweis ist hier nichts zu machen – gibt es einen anderen?
Beispiel: Das Medikament M1 ist absolut sauber und von „guten“ Wissenschaftlern erforscht worden (keine gefälschten Daten, keine geschönten Statistiken, randomisierte Langzeitstudien – kurz, der utopische Idealfall). Das Medikament wirkt, die Nebenwirkungen sind minimal. Doktor P. behandelt damit innerhalb eines Jahres über 300 Patienten, führt genauestens Buch (Dokumentation) und kann eine siebzigprozentige Erfolgsrate verbuchen – ein klarer Beweis für ihn, dass das Medikament so wirkt wie es wirken soll, bzw. dass die Heilerfolge damit ausschließlich auf dieses Medikament zurückzuführen sind. Nach derzeit sich anbahnender Erkenntnis ist die Beweislage allerdings überhaupt nicht so klar, wie es den Anschein hat. „Der Mörder war wieder der Gärtner“ (Reinhard Mey) – in diesem Falle ist es wieder der Placeboeffekt. Selbst wenn er nur zu einem Drittel für die Heilerfolge verantwortlich wäre, würde das den „Beweis“ für die ausschließliche Wirkung des Medikamentes M1 in eine empfindliche Schräglage bringen.
Halten wir fest: auch ein wissenschaftlicher Beweis ist noch lange kein Beweis! Und unter diesem Aspekt kann sehr wohl der nächste Kandidat in Sachen Beweis in Betracht gezogen werden: der Erfahrungsbericht.
Der Erfahrungsbericht wird von den Wissenschaftlern als „anekdotische Faktensammlung“ (anecdotal evidence) abgetan … nur, wie wir gerade in Bezug auf die fragwürdige Beweislage der wissenschaftlichen Medizin gesehen haben, mit welchem Recht eigentlich? Die Wissenschaftler haben doch selber nichts „Besseres“ vorzuweisen! Oft wird von Wissenschaftsjüngern die Frage gestellt, ob die Alternativen denn etwas Besseres anzubieten hätten als den wissenschaftlichen Beweis. Man sollte diese Frage mit einer Gegenfrage beantworten, ob denn nämlich die Wissenschaftler nichts Besseres anzubieten haben, als nur einen wissenschaftlichen Beweis.
Homöopath H. behandelt im Laufe eines Jahres 300 Patienten homöopathisch, führt darüber genauestens Buch, und kommt am Ende des Jahres ebenfalls auf eine siebzigprozentige Erfolgsquote, die er natürlich als Beweis dafür ansieht, dass die Homöopathie funktioniert. Wenn etwas gegen diesen „Beweis“ einzuwenden wäre, dann nur das, was man auch gegen den Beweis für M1 einzuwenden hat – allerdings mit einem sehr nachdenkenswerten Unterschied: Im Falle des Medikaments M1 bleiben nach Abzug von 30% Placeboeffekt immer noch 40% für die tatsächliche Wirkung des Mittels – bei der Homöopathie bleibt das „Was“ übrig? 40% tatsächliche Wirkung des homöopathischen Mittels?
Jeder Versuch von wissenschaftlicher Seite, diese 40% mit anderen Faktoren wie z.B. dem der Selbstheilung erklären zu wollen, sind nichts als Eigentore, denn die Selbstheilung trifft auch für die wissenschaftliche Medizin zu – eigentlich sogar zu einem noch viel höheren Prozentsatz, denn wie wir bei „Placebo und Co.“ gesehen haben, ist eins in der wissenschaftlichen Medizin Mangelware: Zeit! Zeit für die Patienten – was bleibt denen da also anderes übrig, als sich selber zu heilen (falls die viel zitierte Selbstheilung nicht durch allopathische Medikamente torperdiert worden ist).
Wann brauchen Sie nun also was für eine Art von Beweis? Die Antwort ist ganz einfach: Ihre Erfahrung ist der einzige Beweis den sie brauchen. Wenn Sie durch eine homöopathische Behandlung genesen, kann es Sie einen Teufel scheren, ob es dabei wissenschaftlich mit rechten Dingen zugegangen ist oder – natürlich – nicht. Und wenn Ihnen eine wissenschaftlich-medizinische Behandlung geholfen hat, dann braucht es Sie ebenfalls nicht im Geringsten kümmern, ob da der Placeboeffekt mit gespielt hat oder nicht.
Wenn Sie allerdings nach einer alternativen Behandlung genesen sind, können Sie darüber nachdenken, ob es denn immer alles „wissenschaftlich“ sein muss – Sie wissen ja jetzt, dass auch ein „wissenschaftlicher“ Beweis so löcherig sein kann wie ein Schweitzer Käse.